Meine A1: Betrachtungen über die Westautobahn

erschienen im Standard am 2.7.2016

https://derstandard.at/2000040203991/Meine-A1-Betrachtungen-ueber-die-Westautobahn


Vielfältig wie meine Befindlichkeiten auf den Reisen über die Westautobahn waren die Autos, mit denen ich sie zunächst passiv und später aktiv befahren habe. Betrachtungen zu Beginn der Reisezeit

Zu Ferienbeginn war ich wieder einmal auf der Westautobahn unterwegs und passierte dabei meine persönliche A1-Referenzstelle, an der ich seit langem meine aktuelle Befindlichkeit und meine allgemeinen Lebensumstände messe. Dabei handelt es sich um eine in meiner Kindheit angenommene Angewohnheit: In bestimmten Momenten halte ich meinen Lebensfilm an, registriere die äußeren Umstände und nehme sie zum Referenzpunkt, um mittels einer Art internen Zeitraffers Veränderungen in meinem Leben besser sichtbar zu machen. Die 292 Kilometer lange Westautobahn im Allgemeinen und ihr etwa 45 Kilometer langes Teilstück zwischen Schörfling und Thalgau im Speziellen waren schon in meiner frühen Kindheit von großer persönlicher Bedeutung. Und das nicht nur in der Praxis, sondern auch in der Theorie: So erinnere ich mich an ein Buch in der Bibliothek meiner Eltern mit dem Titel Die Autobahn Wien-Salzburg, in dem mich ein Farbfoto von friedlich neben der Autobahn bei Mondsee weidenden Kühen fasziniert hat.

Kindheitserinnerungen

Die erste der erwähnten A1-Analysen geschah im Alter von etwa acht Jahren bei jener Brücke knapp vor Salzburg Nord, auf der mit roten Linien neben einer Postkutsche verschiedene Berufsbilder dargestellt sind. Dieser Abschnitt der Autobahn repräsentierte nämlich eine erste Zäsur auf praktisch allen längeren Reisen, die unsere Familie – stets mit dem Auto – unternahm. Tatsächlich sind wir fast immer in Richtung Westen gereist. Im Winter fuhr man zum Skifahren nach Alpbach in Tirol (solche Skiurlaube für fünf Personen konnte sich damals auch ein alleinverdienender Vater mit einem Job in der mittleren Führungsebene eines verstaatlichten Betriebes leisten) und sommers an die nordspanische Mittelmeerküste. Zu diesem Zweck begaben wir uns mit dem Auto nach Karlsruhe, wo dieses samt Familie per Autoreisezug nach Narbonne verfrachtet wurde, von wo wir die letzten paar Hundert Kilometer nach Rosas wieder auf eigener Achse zurücklegten. So wurde die bewusste Autobahnbrücke vor Salzburg zu einer Vermessungsstelle der Veränderungen der eigenen Gefühle: Vorfreude auf den Urlaub, Traurigkeit über das Ende der Ferien, später Niedergeschlagenheit über die mit jedem zurückgelegten Kilometer sich vergrößernde Distanz zu der jeweiligen Freundin oder Zunahme der Ungeduld, mit welcher der erhoffte Brief der Angebeteten im elterlichen Postkasten erwartet wurde. (Wir sprechen von den 1980er-Jahren, also der prähistorisch anmutenden Zeit vor Erfindung von Internet und Smartphones).

Kein Null-Kilometer

Es ist übrigens bemerkenswert, dass die A1 keinen Null-Kilometer aufweist. Sie beginnt bei Auhof nämlich mit Kilometer 8,632 (als Kind hat man auf langen Autofahrten oft nichts Besseres zu tun, als die kleinen blauen Schilder am rechten Straßenrand zu beobachten) und legt somit kilometermäßig gleichsam einen Frühstart hin. Der Grund für diese Besonderheit ist, dass der Stephansdom selbst im 21. Jahrhundert Wien betreffend das Maß aller Dinge ist und daher die innerstädtischen Entfernungen immer in Referenz zum Steffl gemessen werden. Ebenso vielfältig wie meine Befindlichkeiten auf den Reisen über die Westautobahn waren die Autos, mit denen ich meine persönliche Route 66 zunächst passiv und später aktiv befahren habe. Da waren zunächst verschiedene Mercedes-Modelle meines Vaters, von denen mir aus den Anfängen ein silbergrauer 240 D und zuletzt ein weißer 190 E in Erinnerung geblieben sind, die als Firmenwagen und Familienkutschen dienten. Meist waren diese Autos nicht nur bis unters Dach vollgepackt, sondern wurde auch noch das, was man damals Dachgalerie nannte, montiert und mit Dingen wie Kinderbetten, Koffern und Ski beladen.

Meldungen im Verkehrsfunk

Im Fond des Mercedes saßen zunächst mein Zwillingsbruder und ich, später auch noch unser um sechs Jahre jüngerer Bruder und fast immer unsere Kinderfrau sowie später das jeweils aktuelle Au-pair-Mädchen. Um die Zulassung für maximal fünf Personen kümmerte sich kaum jemand, lediglich beim Grenzübertritt am Walserberg kam gelegentlich eine gewisse Nervosität auf, die aber meist eher durch den Schmuggel von spanischem Cognac oder Ähnlichem begründet war. Umso befremdlicher ist es für mich, seit einigen Monaten im Verkehrsfunk wieder Meldungen zu hören, wonach es – aufgrund der durch die Flüchtlingsströme bedingten Personenkontrollen – am Grenzübergang Walserberg zu Wartezeiten kommt. Sollte uns das nicht mehr beunruhigen, als es das tut? In meiner Studienzeit teilte ich mir mit meinem Zwillingsbruder einen VW Golf. Auch in diesem bin ich immer wieder auf der A1 unterwegs gewesen. Bei einer dieser Fahrten bin ich nach einem langen Wochenende, das durch kurze Nächte geprägt war, an einem Montag um etwa halb sechs Uhr auf dem Weg zu meinem damaligen Arbeitsplatz kurz vor Linz Opfer des Sekundenschlafs geworden und nur durch großes Glück rechtzeitig und daher gottlob nicht an meiner Arbeitsstelle, dem Unfallkrankenhaus, oder gar nicht mehr aufgewacht.

Der schlimmste Ritt meines Lebens

Das nächste Auto, das ich in regelmäßigen Abständen über die Westautobahn bewegte, war ein MG RV8. Die erste Fahrt in dem rechtsgesteuerten Cabrio, auf das ich seit Studententagen gespart hatte, zählt zu den Highlights meiner persönlichen Westautobahn-Erlebnisse. Als ich einige Jahre später regelmäßig meine zukünftige Frau, die damals in Salzburg lebte, besuchte, frequentierte ich in dem Roadster die Westautobahn manchmal sogar zweimal täglich. Eine Zeitlang fuhr ich dann einen Opel Corsa, dem ich wohl den schlimmsten Ritt meines Lebens über die A1 verdanke. Ich war an einem Sonntag spätabends auf dem Heimweg von Salzburg, als kurz nach der Auffahrt die Beleuchtung völlig ausfiel – oder fast völlig. Nach einer Schrecksekunde stellte ich nämlich fest, dass das Fernlicht noch funktionierte, und so beschloss ich, die knapp 300 Kilometer nach Wien auf diese Weise zu absolvieren.

Lichthupensignale

Die Lichthupensignale der mir entgegenkommenden Fahrzeuge konnte ich bis Hütteldorf halbwegs ignorieren. Auf der Höhenstraße war das dann nicht mehr möglich, sodass ich bei Gegenverkehr immer wieder das Licht komplett abschalten musste, was aufgrund der beträchtlichen Gefahren, die im Wienerwald lauern, nicht ungefährlich ist (Rehe, schlüpfriges Kopfsteinpflaster in Kurven, deren Radien wohl auch schon zur Zeit ihrer Fertigstellung unter dem NS-Regime eine Zumutung darstellten. Womit sich der Kreis zur Westautobahn schließt, deren Grundstein auf dem Abschnitt zwischen Salzburg und dem Walserberg in Anwesenheit des „Führers“ im April 1938 gelegt wurde.) Bei der heutigen Fahrt nach Salzburg überholte uns an meiner A1-Referenzstelle der fünfte Luxus-Geländewagen, diesmal mit rumänischem Kennzeichen. „Ist das ein Hinweis auf die gesellschaftspolitischen Veränderungen, die Europa seit einigen Jahren erfährt?“, fragte ich mich, „und wenn ja, wohin führen uns diese Entwicklungen? Werde ich hier wohl noch mit meinen Enkelkindern vorbeikommen? Und wie werden die inneren und äußeren Umstände dann sein?“

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